Madame Du Titre, eine schlagfertige Frau

Marie Anne Du Titre ist stadtbekannt wegen ihrer ungewohnt offenen, scheinbar naiven und schlagfertigen Redeweise. Die meisten Anekdoten und Sprüche sind erfunden, alle ausgeschmückt und verfälscht.

 

Ihre Eltern besitzen eine Brauerei und Land an der Spree zwischen Weidendammer Brücke und Marschallbrücke. 1781 heiratet Marie Anne George Etienne Du Titre, Seiden- und Kattunhändler, der eine Baumwollmanufaktur und eine Baumwolldruckerei besitzt, und einer der größten Textilunternehmer ist. Die Töchter Sara Augustine und Marie Louise heiraten in wohlhabende Familien.

 

Madame Du Titre. Zum 175. Geburtstag am 27. Januar 1923 [Teil 1]

Eine Quellensammlung von Dr. Hermann Kügler

Mit einer Abbildung: Porträt Madame Du Titre


Kügler versammelt hier Anekdoten über Marie Anne Du Titre und berichtet über deren Entstehung. Marie Anne Du Titre (1748 - 1827), geborene George, ist stadtbekannt wegen ihrer ungewohnt offenen, scheinbar naiven und schlagfertigen Redeweise. Die meisten Anekdoten und Sprüche sind erfunden, alle ausgeschmückt und verfälscht.

Ihre Eltern besitzen eine Brauerei und Land an der Spree zwischen Weidendammer Brücke und Marschallbrücke. 1781 heiratet Marie Anne George Etienne Du Titre, Seiden- und Kattunhändler, der eine Baumwollmanufaktur und eine Baumwolldruckerei besitzt, und einer der größten Textilunternehmer ist. Die Töchter Sara Augustine und Marie Louise heiraten in wohlhabende Familien.

Die Anekdoten über Madame Du Titre beginnen bei Willibald Alexis, gehen über einen Goethe-Freund zu Gustav Parthey usw. Friedrich Tietz schreibt ein Berlin-Buch und bringt Du-Titre-Anekdoten, weitere AutorInnen heften sich an den Verkaufsschlager und schreiben und schreiben und schreiben.

Schließlich bleibt von der freundlichen Dame ein eisernes Kreuz: Ihr Grabkreuz steht bis heute auf dem Französischen Friedhof in der Chausseestraße (nicht Liesenstraße) und ist ein Ehrengrab der Stadt Berlin.

***

 

Aus dem Buche "Alt-Berlin" des nun verstorbenen liebenswürdigen Plauderers Felix Philippi ist die köstliche Madame Du Titre[1] in Erinnerung, von der er auf S. 124-128 spricht und auf Tafel 15 auch eine Abbildung bringt[2]. Sie ist nach einer Photographie im Besitze des Vereins f. d. Gesch. Berlins* hergestellt, die der Photograph E. Encke in Görlitz zu mir unbekannter Zeit nach einem Gemälde angefertigt hat, das zum Besitze der dortigen Nachkommen von Madame Du Titre gehören muß.

Vielleicht kann eins unsrer Mitglieder nähere Auskunft geben, auch darüber, wer der Stifter unsrer Photographie ist. Auf der Rückseite des Gemäldes muß eine eigenhändige Widmung von Madame stehen; denn die Photographie enthält davon die Abschrift: "Dem guten Rudolph Benecke zum Andenken von seiner Ihn zärtlich liebenden Großmutter Marie du Titre gebohrene (!) George. Berlin im Oktober 1816". Wir sehen das Brustbild einer rüstigen Frau mit hellen Augen und lebenskräftigen Zügen; der Blusenkragen ist hochgeschlagen und mit breiten Spitzen besetzt und läßt den Hals frei. Auf dem Kopfe trägt sie eine Schaube, eine Toque, wie man damals sagte, unter der an beiden Schläfen reiches Lockenhaar hervorlugt. Eine mächtige Feder wallt vom Scheitel bis auf die linke Schulter herab.

 

Eine Fülle von Geschichten über sie ist bei unsern Vätern im Umlauf gewesen; Philippi hat einige aufgefrischt. In ihnen bediente sie sich stets der urwüchsigen und unverfälschten berlinischen Mundart; aber dennoch soll sie die einzige Frau in Berlin gewesen sein, "die das Berlinische mit Grazie" zu sprechen verstanden habe. So soll E. T. A. Hoffmann gesagt haben. In seinen Schriften kommen aber weder der Ausspruch noch Madame Du Titre vor, und so viel ich sehe, ist der erste, der das berichtet, Friedrich Tietz in seinem Buche: Bunte Erinnerungen an frühere Persönlichkeiten, Begebenheiten und Theaterzustände aus Berlin und anderswoher. Berlin 1854, S. 58-65, wo er über Madame Du Titre spricht[3]. Er hat Madame Du Titre als Witwe gekannt und muß seine Angabe aus der Überlieferung geschöpft haben; denn auch in Hoffmanns Briefen wird M. D. T. nicht erwähnt, soweit sie Hans von Müller herausgegeben hat; aber er schrieb mir, ihr Name komme auch in den bisher unveröffentlichten nicht vor.

 

Das Leben der Marie Anne Du Titre

Marie Anne Du Titre wurde am 27. Januar 1748 in Berlin geboren. Ihr Vater, Benjamin George, war ein wohlhabender Brauer und besaß größere Ländereien an der Spree zwischen der Marschall- und der Weidendammer Brücke. Nach ihm ist die heutige Georgenstraße benannt worden. Er war Mitglied der Berliner Französischen Kolonie, am 1. März 1712 geboren, und starb am 22. Dezember 1771.

Am 12. Januar 1730 heiratete er die 1707 in Berlin geborene Sora Robert, ebenfalls Kolonistin[4]. Zehn Kinder entsprossen der Ehe. Marie Anne, das neunte, heiratete am 25. März 1781 "en chambre à Bernau" den reichen Seidenhändler Etienne Du Titre[5], der am 30. Januar 1734 in Berlin geboren worden war, ebenfalls der Kolonie angehörte und im ersten Stock seines Hauses Poststraße 26 wohnte.

Das Haus in Charlottenburg, Berliner Straße 54, neben dem "Türkischen Zelt" (vgl. Gundlach, Geschichte von Chbg. Bd. 2 S. 465), auf einem Grundstück zwischen Rosinen- und Kirchhofstraße, nicht das Türkische Zelt selber, wie Dr. Ferdinand Schultz in der Chronik der Residenzstadt Chbg., ebd. 1887, S. 208-209 berichtet, besaß sein Bruder Benjamin vom 2. Februar 1791 bis 28. März 1801[6].

Die Häuser Nr. 34 und 35 gehörten jener Tiene Du Titre, der Schwägerin der Gräfin Lichtenau (Gundlach, II 452-453). Das Haus Unter den Linden 71, das der berühmte Lindenfries in den Mitt. Des Vereins f. d. Gesch. Berlins 1908, S. 77 zeigt, hat ebenfalls dem Wollfabrikanten Benjamin D. T. gehört und danach seiner Witwe aus zweiter Ehe, gebor. Korn.

 

Aus ihrer Ehe stammten ein Sohn und zwei Töchter: Etienne, geboren am 23. Juni 1783, gestorben am 16. November 1786; Sara Augustine, geboren am 19. August 1785, und Marie Louise, geboren am 1. Oktober 1786.
Ihren Töchtern ließ sie eine vorzügliche Erziehung angedeihen: Julius Eduard Hitzig berichtet in seinem Buche "Leben und Briefe von Adelbert von Chamisso", Lpz. 1839, S. 9, Prudens, Chamissos Bruder, der von 1771-1796 lebte, sei dem geistlichen Stande gewidmet gewesen und habe "in der bekannten Familie Dutitre als Erzieher" gewirkt. Sara heiratete am 14. Oktober 1805 den Kaufmann Karl Ferdinand Beyrich (+ 1. August 1829 im Alter von 44 Jahren) und Marie am 4. Februar 1808 den Bankier Wilhelm Christian Benecke.

Er besaß das Haus Unter den Linden 78 am Pariser Platz und war einer der ersten Handelsherren Berlins[7]. Er war einer der sieben Direktoren des Königstädtischen Theaters. Die schlesische Herrschaft Gröditzberg gehörte ihm, und nach ihr wurde er am 4. April 1829 in den preußischen Adel als Benecke von Gröditzberg erhoben. Sein Geschlecht erlosch im Mannesstamme im Jahre 1902 mit dem jüngsten seiner sechs Kinder, dem 84jährigen Rittmeister a. D. Wilhelm Benecke v. Gröditzberg.
Der alte Du Titre starb am 16. Juli 1817, sie selber am 22. Juli 1827 morgens 9 3/4. Als Todesursache gibt das Kirchenbuch Wassersucht an. Sie wurde nach derselben Quelle auf dem Kirchhof vor dem Oranienburger Tor begraben, das ist heute Chausseestraße 127. Auf dem Kirchhof in der Liesenstraße, von dem einige Zeitungsschreiber reden, hat sie also nie gelegen. Ihr Grab liegt schräg links vor dem von Ludwig Devrient auf der linken Seite vom Eingange. Das Konsistorium der Französischen Gemeinde sorgt für dauernde Instandhaltung.

In den von Béringuier Berlin 1885-1887 herausgegebenen "Stammbäumen der Französischen Kolonie" fehlt die Du Titre; er hat ihre Abkunft erst im Berliner Kalender von 1905 (hg. vom Verein f. d. Gesch. Berlins) dürftig veröffentlicht; aber weshalb er den 1. Februar als ihr Geburtsdatum abgibt, anders als Kirchenbuch und Grabstein, weiß ich nicht[8].

 

Die Anekdoten

Zum ersten Male berichtet Willibald Alexis eine Anekdote über sie, allerdings ohne ihren Namen zu nennen. In den "Drei Blättern aus meinen Erinnerungen" in dem Taschenbuche Penelope auf das Jahr 1839, hg. von Theodor Hell, S. 329, schreibt er:

"In jene Zeit [nämlich 1819] gehört auch die berühmte Anekdote von der ältlichen Berlinerin, die in stummer Bewunderung seine [Goethes] Bekanntschaft suchte, und die Goethen selbst so ungemeines Vergnügen gemacht. Sie ist, soviel mir bekannt, noch nicht gedruckt. Der Heros trat auf sie unerwartet zu und fragte, napoleonisch rasch, wohl in der Absicht sie zu verwirren: Kennen Sie Mich? Und die Dame entgegnete mit ehrfürchtigem Knix: Großer Mann! Wer sollte Ihnen nicht kennen: Fest gemauert in der Erde steht die Form aus Lehm gebrannt!"

Ähnlich berichtet den Vorfall der Freiherr von Czettritz-Neuhausen bei Biedermann, Goethes Gespräche, Lpz. 1909, Band 1, S. 553, auch ohne Namensnennung, aber aus der Zeit vor 1808, wo Goethe ihn während eines Abendesssens beim Großherzog in Gegenwart des Berichterstatters selber zum Besten gab:

"Eine reiche Bürgersfrau aus Berlin, enthusiastische Verehrerin Goethes, entschloß sich, die damals lange Reise bei schlechten Wegen nach Weimar zu unternehmen, um den großen Mann wie Dichter von Angesicht zu sehen. Glücklich an Ort und Stelle angekommen, läßt sie sich bei Goethe melden und bittet um Audienz, die ihr abgeschlagen wird.
Trostlos und voller Schmerz läuft sie zu dem Geheimrat von Müller, intimem Freund Goethes - wie sie dessen Bekannte gewesen, berührte Goethe in seinem Vortrage nicht - und bittet um dessen Vermittlung, der er sich unterzieht, und diesen endlich dahinbringt, ihm zu sagen: Laß Deine Klientin wissen, daß ich sie morgen früh 11 Uhr empfangen will.
Spät abends erhält die Supplikantin diese sie beglückende Nachricht, welche ihr eine schlaflose Nacht macht, sowie sie mit frühem Morgen sich schon in höchsten Glanz wirft und ihr der Zeiger der Stadtuhr eine säumige Schnecke dünkt. Endlich zeigt er 3/4 auf 11, und sie eilt nach der Wohnung des großen Mannes, wo sie von einem Diener empfangen und in den Empfangssalon eingeführt wird. Im höchsten Grade aufgeregt, durchmißt die gute Frau den Saal auf und ab, bis endlich der Ersehnte erscheint, sie auf ihn zustürzt, sich auf die Knie wirft und pathetisch deklamiert:

Fest gemauert in der Erde
Steht das Haus aus Ton gebrannt!
worauf Goethe ihr sagt: Es freut mich, daß Sie meinen Freund Schiller ehren! - und fortgeht."

 

Zum dritten Male wird uns die Geschichte, nun mit Namensnennung, verbürgt von G. Parthey, Ein verfehlter und ein gelungener Besuch bei Goethe 1819 und 1827. Handschrift für Freunde, Bln. 1862, (Staatsbibliothek Au 6189) S. 15 und 16[9]. "Ein Besuch der berühmten Frau Dutitre bei Goethe, fuhr Paul fort, erregte vor einiger Zeit in Berlin große Heiterkeit, besonders wenn sie ihn selbst in ihrer naiven Weise erzählte:

Ich hatte mir vorgenommen, sagte sie, Goethe doch och mal zu besuchen, und wie ick mal durch Weimar fuhr, ging ick nach seinen (!) Garten und gab dem Gärtner einen harten Thaler, daß er mir in eine Laube verstechen und einen Wink geben sollte, wenn Goethe käme. Und wie er nun die Allee runter kam, und der Gärtner mir gewunken hatte, da trat ich raus und sagte: Angebeteter Mann! Da stand er stille, legte die Hände auf den Rücken, sah mir groß an und fragte: Kennen Sie mir? Ich sagte: Großer Mann, wer sollte Ihnen nicht kennen! Und fing an zu deklamieren:

Fest gemauert in der Erden
Steht die Form aus Gyps gebrannt!
Darauf machte er einen Bückling, drehte sich um und ging weiter. So hatte ick denn meinen Willen gehabt und den großen Goethe gesehen.

 

Als Madame Braunbiegler spielt sie in Alexis' "Ruhe ist die erste Bürgerpflicht" 1852 eine Rolle, namentlich im 78. Kapitel. Er sagt dort, er habe ein "Diktum mit stereotypischer Genauigkeit aus den Akten jener Zeit" entnommen; aber diese Akten sind natürlich nur dichterische Erfindung.

Zum ersten Male stellte der erwähnte Friedrich Tietz mehrere Anekdoten über sie zusammen auf S. 58-65 seines Buches. Er berichtet auch, daß Friedrich Wilhelm III. "ein guter Bekannter" der Dame gewesen sei und keine Gelegenheit versäumt habe, ihr Freundliches zu sagen.
Noch ihr Schwiegersohn, der Baron von Gröditzberg, setzte diese Beziehungen fort und schenkte dem König eine Bank aus Eichenholz, die 1831 neben dem Pavillon im Charlottenburger Schloßpark aufgestellt wurde und bis 1864 den Witterungseinflüssen standhielt (Gundlach a. a. O. II 412).

 

Tietz hat seine Anekdoten zum Teil von "40- bis 50jährigen Residenzlern" erfahren, zum Teil aus eigener Erinnerung gebracht; aber er macht beide Arten nicht erkennbar. Er erzählt, Madame habe einmal beim Anblick eines mit Wollsäcken bepackten Wagens ihren Schwiegersohn gefragt: "Wat is det uf de Wagens? - "Wolle, liebe Schwiegermama!" antwortete der Gefragte. Aber sie kannte das Wort nicht, und erst, als er ihr in gutem Berlinisch sagte "Wulle", verstand sie und war nur ärgerlich, daß er es nicht gleich "richtig" gesagt hatte.

 

Madame Du Titre und der König von Preußen

Wenn der König im Sommer in Charlottenburg wohnte, kam er oft an Madames Haus vorbei, wenn sie, wie es damals bei den Berlinern Sitte war, dort zur Sommerfrische weilte. Einmal fragte er sie leutselig: "Haben Ihr Haus ausbauen lassen, Madame Du Titre?" - "Propper, Majestätken!" war die Antwort, und sogleich erbot sie sich, ihm die neue Einrichtung zu zeigen. Trepp auf, Trepp ab führte sie ihn - selbst die ultima Thule wollte sie nicht übergehen; aber der König winkte ab.

 

Nie versäumte sie in Berlin die Mittagsspazierfahrten, die die vornehme Welt damals im Tiergarten von 12 bis 2 Uhr auf dem Wege zum Hofjäger unternahm. Sah sie den König, dann gab sie dem Kutscher einen derben Schlag; sofort hielt er, und sie erhob sich würdevoll, um einen tiefen Knix zu machen. Diese Huldigung trug ihr stets freundlichen Dank ein.
Aber einmal übersah er sie unabsichtlich. Abends erschien sie traurig auf dem "Brühlschen Balle", und als er sich nach dem Grunde ihrer Bekümmernis erkundigte, klagte sie mit Tränen in den Augen, weil Majestätken so stolz gegen sie geworden sei und ihr auf den Gruß am Morgen nicht geantwortet habe. Aber er vermochte sie von der Grundlosigkeit ihrer Befürchtung, und versöhnten sich beide wieder.

Er erkundigte sich freundlich nach ihrem Schwiegersohn, dem Baron von Gröditzberg, der mit seiner Frau gerade in Rom weilte, und da prahlte sie: "Alle Dienstag und Freitag bei Papstens in Rom zum Thee und die Päpstin so freundlich zu meine Dochter, wie" - mit einem bescheidenen Lächeln - "Majestätken zu mir." Geiger weist in seinem Buche "Berlin 1688 bis 1840, Geschichte des geistigen Lebens der preußischen Hauptstadt", 2. Bd., S. 524 Anm. darauf hin, daß die Estafette 1827, Nr. 78 einen ähnlichen Witz einem Juden zuschreibt.

 

Tietz berichtet weiter, daß Madame eines Tages zu der damals berühmten Modistin Madame Loewn kam und sich einen Hut bestellte. "Jeben Sie mir so eenen, wie meine Dochter G. hat." Sie galt damals als Muster für einfache Vornehmheit. Aber die ihr vorgelegte Form schien ihr doch zu mißfallen. Bald sagte ihr mehr der eine Hut zu, bald der andere; doch dann entschloß sie sich kurz: Madame Loewen sollte ihr einen Hut machen "hinten wie der von meine ältste Dochter und vorne wie meiner jüngsten ihrer."

Eines Tages ging die Freundin einer ihrer Töchter, Frau von B., an ihrem Hause in der Poststraße vorüber. Madame Du Titre reißt den Fensterflügel auf und ruft hinab: "Liebste Frau von B., ick bin heute sehre jlücklich jewesen, hab' een propres Stücksen Leinwand jekooft, - keene Baumwulle, purer Zwirn!" Frau von B. legt die Lorgnette ans Auge und blickt hinauf. "So können Sie's nicht recht betrachten," ruft oben die alte Dame, "warten Sie mal!" und damit läßt sie das freie Ende des Ballens auf die Straße rollen; danach wickelt sie es wieder auf.

 

"on dit gegangen, gegangen, nicht jelofen -"

Sie war eine große Verehrerin von Ludwig Devrient - wie ja die meisten Berlinerinnen damals. Es gelang ihr, den großen Schauspieler einmal zu einem Besuche bei ihr zu bewegen. Mitten in seiner Begrüßungsrede unterbrach sie ihn: "Aber sagen Sie mir, Devrientchen, warum sind Sie denn, wie Sie noch kleen waren, Ihrem Vater fortjelofen und unter die Lumpenkomödianten jegangen?"

An diese Anekdote schließt Tietz als letzte die von der Abfuhr, die Madame ihrer Gesellschaftsdame an einem schönen Wintertage Unter den Linden erteilte. Mit lauter Stimme erzählte Madame, wo sie am Vormittage schon überall Besuche gemacht habe: "Denken Se sich, Liebeken, von de B. bin ick zu de D. jelofen, und von de D. bin ick zu de M. jelofen, und denn bin ick wieder zu de F. jelofen und von de F. bin ick zu de K. jelofen, und wie ick so jelofen bin - "
- "Aber Madame Du Titre", flüsterte die Begleiterin, "on dit gegangen, gegangen, nicht jelofen -".
Aber da legte die alte Dame los: "Wat, gegangen, gegangen? Mamsellken, ick bin jelofen, jelofen und ick habe den reichen Du Titre gekriegt - und Sie sind gegangen und gegangen und haben noch keinen nich gekriegt. Also is jelofen besser wie gegangen, merken Sie sich das!" -

 

Die Lebenserinnerungen der Karoline Bauer

Die Schauspielerin Karoline Bauer, die von 1824 bis 1829 in Berlin lebte, berichtete dann in ihren Lebenserinnerungen, die 1870 erschienen, von Madame Du Titre (am bequemsten zugänglich in der Auswahl von Dr. Karl Hollander bei Kiepenheuer, Weimar 1917, S. 82-84).
Sie versichert, Berlin habe die lustigsten Anekdoten von ihr zu erzählen gewußt. Sie wiederholt die spaßige Anrede Majestätken und daß der König sie nicht bemerkt habe, auch mit einiger Änderung die Anekdote von jelofen (!), die sie aber nicht auf Madame und ihre Gesellschaftsdame bezieht, sondern auf ihre Freundin, der sie die Antwort mit Bezug auf ihre beiden Töchter gab.

Das Erlebnis mit Devrient deutet sie nur kurz an. Sie fügt aber hinzu, Madame sei "fast jeden Abend im originellsten Putz in ihrer Theaterloge" erschienen, und ihre "drastischen, laut geflüsterten Zwischenreden erregten nicht selten die allgemeine Heiterkeit im Publikum und auf der Bühne".

Die Hutgeschichte bekommt bei ihr ein schon weiter ausgesponnenes Gewand: Der "alte originelle Herzog von Koburg" habe aus einem "intimsten Stück seiner abgelegten Garderobe für die Hofdamen seiner Gemahlin heimlich mit Paradiesvögeln geschmückte Turbans oder Toques zu Weihnachtsgeschenken anfertigen lassen", und ähnlich habe Madame Du Titre ein solches samtenes Erbstück ihres Seligen bei Madame Loewen zu einem Winterhut verarbeiten und mit Straußenfedern verzieren lassen. "Sogar Majestätken wurde es nicht geschenkt, aus dem gerührten Witwenmunde zu vernehmen, wie Madame Du Titre ihren Seligen ehrte!"


Neu ist bei ihr die folgende Anekdote: In der Königstraße sah sie ein entfesseltes Rind ihr entgegenspringen. Voll Geistesgegenwart reißt sie die nächste Glastür auf, stürzt in den Laden und ruft: "O Jemine, hier kommt ne dolle Kuh[10]!"

Karoline berichtet auch von einem Empfang bei der Baronin von Gröditzberg, die der Mutter mit Bezug auf die Sprache kaum nachgab; denn "Durchlaucht" geruhten unter anderem zu fragen: "Haben Sie denn auch ein jutes Jedächtnis? - Das Auswendiglernen der Rollen muß doch entsetzlich sind!" Ich war im Begriff, pikiert zu antworten, aber ein Blick der Mutter (nämlich Karolinens) verhinderte es. Rächen mußte ich mich aber doch, und so erwiderte ich lammfromm: "Ich besitze jar kein Jedächtnis, - ick bin ein armes jequältes Menschenkind!"

In einem Brief an Arnold Wellmer vom 19. April 1869 (Hg. von A. Wellmer, Bln. 1878, 1. Bd., S. 59) bezieht sie kurz die Geschichte von dem Hut auf die "Fürstin" Beneke - so seien sie ihres Reichtums wegen genannt worden - die ihn sich aus den sammetmanchesternen Hosen ihres Mannes habe für den Winter machen lassen. Als sie ihn zum ersten Male trug, fragte sie: "Korline, hier fliegen ja Tauben?" Und es waren die weißen Federn von ihrem Hut.


Ausführlicher erzählt das Felix Eberty, aber nicht von der Baronin, sondern wieder von Madame, in den "Jugenderinnerungen eines alten Berliners", Bln. 1878, S. 344 bis 345. Die Sonderbarkeiten der Madame Du Titre seien stadtbekannt gewesen und schon mehrfach in Druckschriften besprochen. Eine wolle er hinzufügen, die den meisten Lesern noch neu sein dürfte.

"Sie hatte ein Gesellschaftsfräulein, zu dessen Obliegenheiten es gehörte, daß es der Gebieterin niemals widersprechen durfte. Einst fuhren beide Damen an einem windigen Tage im offenen Wagen nach Charlottenburg; Madame Du Titre, schön geputzt, trug einen mit drei Marabutfedern verzierten Hut. Sehr bald entführte der Wind die eine, und die Eigentümerin, die etwas Weißes in der Luft flattern sah, fragte: "Mamsellken, war det nich eine Taube?"
Antwort: "Jawohl, Mad. D. T.!" Nach einigen Minuten entführte Zephyros die zweite Feder: "Mamsellken, war det nich ein Stücksen Papier?" - "Jawohl, Mad. D. T.!" Als nun gleich darauf die dritte Feder sich empfahl, wurde die Sache verdächtig. "Herr Jees, Mamsellken, war det nicht en Marampuff?" - "Jawohl, Mad. D. T., es war der letzte!"

 

Diese Geschichten müssen damals sehr oft erzählt worden sein; Karolinens Buch hat ja auch reißenden Absatz gefunden und das Büchlein von Tietz ist noch einmal in einer Sammlung von "Heiterer Eisenbahnlektüre", Bln. 1859 im Verlage von Bloch erschienen. Erklärlich ist es, daß sie manche Abänderungen und Hinzudichtungen erfahren haben und daß manches der Madame zugeschrieben wurde, was vielleicht gar nicht auf ihr Konto kam; aber es gab noch nach Jahren einige Personen, die die orginelle Frau persönlich gekannt hatte.

 

Emil Dominik erfindet neue Geschichten von Madame Du Titre

Deswegen forderte der Schriftleiter Emil Dominik der in Berlin erscheindenden Zeitschrift "Der Bär" seine Leser auf, ihm Geschichten über Madame Du Titre mitzuteilen. Er veröffentlichte eine reiche Ausbeute im "Bär" [nicht zu verwechseln mit dem Jahrbuch des Vereins für die Geschichte Berlins] 1879, S. 220 bis 223 und 260 bis 262.
Er hatte selber zu verschiedenen Zeiten Anekdoten aus ihrem Leben in alten Berliner Familien erzählen hören und wollte sie "textkritisch" untersuchen. Aber diese Absicht scheint er nicht ausgeführt zu haben; wenigstens wiederholte er in seinem Buche "Quer durch und rund um Berlin", ebd. Paetel 1883, S. 3-4 nur einige Anekdoten aus dem "Bär", ohne kritisch Stellung zu nehmen. Von vielen Personen liefen ihm Nachrichten zu, darunter von einigen, die sich in der Berliner Ortsgeschichtsschreibung einen Namen gemacht haben.

 

L. Alfieri teilt zunächst etwas über ihre Gewohnheiten mit. Ihr Wohnhaus in der Poststr. 26 sei zu ihren Lebzeiten nicht so hoch und eng gebaut gewesen wie um 1879. Die "Bel-Etage" habe sie allein bewohnt, und zwar lag "ihr Wohnzimmer, von dem aus sie die Unterhaltungen über und nach der Straße zu führen pflegte, neben Poststr. 27 ... Sie hatte die Wände dieses einfenstrigen Zimmers durchweg mit Mahagoni, kunstvoll in Fächer geteilt, täfeln lassen, und noch bis vor kurzem war unter dem bisherigen Besitzer, Herrn Martens, das sonderbare Zimmer pietätvoll erhalten worden."
Am Schlusse berichtet er die Anekdote von dem Hute, ohne dessen Stoff zu nennen. Auf einer Taufe bei Benekes fragte jemand, was für einen Namen das Kind erhalten habe. "Manchester," erwiderte Madame, worauf ihre Tochter verbesserte: "Mamachen, Casimir heißt er." - "Na ja," sagte sie, "ich wußte, es war Hosenzeug."
Die Leinwandgeschichte und die von der "Wulle" berichtet er auch, ebenso das Zerwürfnis mit dem König, wenn auch mit anderer Begründung. Sie habe ihm wahrscheinlich wegen einer versagten Theaterkarte gezürnt und nach der Aussöhnung gesagt: "Ich habe mich mit dem König wieder vertragen, wir grüßen ihn heut."

 

Die Erwiderungen von Frau von Hohenhausen

Frau von Hohenhausen meint kritisch, es habe sich schon ein ganzer Sagenkreis um sie gebildet, und ihr Name sei gewissermaßen ein geflügeltes Wort geworden. Sie sei aber durchaus keine lächerliche Person gewesen (S. 261), sondern habe in allgemeiner Achtung gestanden und meistens absichtlich die ihr nacherzählten Scherze gemacht, um ihre Bekannten zu belustigen. Viele Geschichten seien unrechtmäßig ihr zugeschrieben; "einige verbürgte" aus "authentischen Quellen" wolle sie in Kürze mitteilen. Leider nennt sie ihre Gewährsmänner nicht.
Als Madames Töchter von Freiern umschwärmt wurden, sagte sie derb: "Ja, wo ein Aas ist, sammeln sich die Adler." Auch "jelofen" sagt sie wie bei Karoline Bauer von ihren Töchtern, aber mit Vergleich zu der angeredeten, "nicht mehr jungen Dame."

Wie sie den reichen Du Titre bekam, weiß Hohenhausen ebenfalls zu berichten: Mamsell George hackte in der Küche Petersilie für den Grünfisch, ein Berliner Lieblingsgericht. Als der Freier eine Weile verlegen und schweigend zugesehen hatte, fragte er: "Ach, Mamsellken, möchten Se denn wol auch einst in meiner Küche jrine Petersilie hacken?" Ein freudiges Ja machte ihn zum glücklichen Bräutigam.

Als sie hörte, daß der französische Gesandte Pair von Frankreich sei, nannte sie ihn immer Väterchen (père) - für eine Kolonistin gewiß einer von den absichtlichen Scherzen. Einmal antwortete sie auf die Frage, wie ihr das Konzert eines berühmten Virtuosen gefallen habe: "O, ich habe mir sehr gut amüsiert, wenn man die eklige Musik nicht gewesen wäre." Aber die Hohenhausen hält diesen Ausspruch mit Recht nicht für ganz echt; denn eine Dame habe ähnlich geantwortet, als sie gefragt wurde, was ihr in Bayreuth am besten gefallen habe: "O, die Zwischenakte, wo immer so viele interessante vornehme Leute zusammenkamen."

 

Die witzige Äußerung "auf einer Kindstaufe" ist ihr ebenfalls bekannt. - Im Theater gab einst die Unzelmann die Lady Macbeth. Als sie in weißem Nachtkleide und mit einer Kerze in der Hand über die Bühne schritt, achtete sie nicht auf die Tropfen, die von dem Leuchter fielen; da rief Madame in die lautlose Stille: "Aber Macbethchen, Macbethchen, Se drippen ja!" Bei Gelegenheit einer Adelsverleihung sagte sie: "Dat F. O. N. ohne det l'argent würde nischt nutzen." -
Zu einer Dame ihrer Bekanntschaft sagte sie einst: "Ich kannte Ihnen ja gar nicht, Sie sehen nicht halb so pummelig aus wie sonst. Gehen Sie heute auch zu die Majorin Schmidt? Na ja, da geht ja Crethi und Plethi hin." Eine andere Dame wurde bei ihr mit den Worten empfangen: "Heute kommt nur Schund zum Thee."

Auch die Leinwandgeschichte teilt die Einsenderin mit; aber die folgenden Geschichten hält sie für unverbürgt. Gleichwohl merkt die Schriftleitung an, sie seien ihr von einer Dame, die mit Madame Du Titre zusammen gelebt habe, als echt bestätigt worden. Zunächst die Zusammenkunft mit Goethe. Sie fügt hinzu, auf ihren Irrtum aufmerksam gemacht, soll sie erwidert haben: "Ach, det macht ja nischt, Schiller und Goethe sind ganz egal." Aber dieser letzte Ausspruch stamme von einer Mamsell Ponge, die damals auch viel belacht und gewöhnlich "Gräfin Pongefeld" genannt wurde.

 

Dem alten Heim, der sich nicht die Zeit nehmen wollte, drei Treppen (?wo wohl? Anm. des Verf.) zu ihr hinaufzusteigen, steckte sie die Zunge aus dem Fenster entgegen. Hohenhausen bezieht die Geschichte auf irgendeinen Kranken. - Als der König einmal während der Vorbeifahrt an ihrer Villa in Charlottenburg (!) sie auf dem Balkon nicht grüßte, erschien sie nicht mehr. "Ick maule mit ihm, weil er gestern meinen Knix gar nicht erwiderte und ganz in Gedanken war." - Ein wahrer Kern zu dieser Geschichte ist offenbar vorhanden - man erinnere sich an die Erzählung von Tietz; aber der Vorfall ist schon stark verändert erzählt.

Auch die Anrede "Majestätken" bezweifelt Hohenhausen, und der Handschuh, den nach ihrer Darstellung der König verlor, als er sie besuchte, ist nach ihrer Meinung nicht unter einer Glasglocke aufbewahrt worden. Wir werden ihm gleich begegnen; von einer Inschrift an dieser Glocke erwähnt die Einsenderin nichts. Vor wenigen Jahren, so schließt sie, sei ihre Tochter in hohem Alter in ihrem Hause am Pariser Platz gestorben, und ihre Enkelin, die Baronin von Schack, sei nach Görlitz gezogen.

 

Ludovika Hesekiel berichtet

Bei Ludowika Hesekiel hat Madame die Zurechtweisung über "jelofen" ihrer Gesellschafterin erteilt, die noch dazu bestimmt gewesen sei, ihr richtiges Deutsch beizubringen. Mit Goethe sei sie in Marienbad zusammengetroffen. (Dieser Irrtum ist wohl darauf zurückzuführen, daß Goethe dort und in Karlsbad verschiedentlich bekannten Berlinerinnen begegnet ist.) Die oben abgedruckten Berichte sprechen alle dagegen.

Die Leinwandgeschichte berichtet sie ähnlich wie schon Tietz; aber den Handschuh hat Friedrich Wilhelm III. nicht bei ihr verloren, sondern als er an ihrem neuerbauten (!) Hause in Charlottenburg vorbeifuhr, winkte sie ihn heran und plauderte mit ihm. Schließlich ließ er sich bewegen, es zu besichtigen. In der Eile zog sie sich weiße Glacéhandschuhe an, und als der König sich verabschiedete, gab er ihr die Hand. Danach ließ sie den Handschuh unter Glas und Rahmen setzen mit der Umschrift: "An diesen (!) Handschuh hat mir mein König angefaßt."

Die Anrede Majestätken erwähnt auch sie; aber bei ihr erscheint der an sich harmlose Vorfall, daß der König einmal einen seiner Handschuhe vergessen hatte, den die gute Frau sich nun ehrfurchtsvoll aufbewahrte, doch schon ganz anekdotenhaft mit der deutlichen Absicht ausgeschmückt, die witzig wirkende Inschrift anzubringen. Außerdem hat sie ja auch gar kein Haus in Charlottenburg bauen lassen, sondern, wie Tietz richtig mitteilt, dort zur Sommerfrische geweilt. Aber der von ihm mitgeteilte irrtümliche Ausdruck der vorbeifahrenden Königs "ausbauen" hat vielleicht im Zusammenhang damit, daß ihr Schwager dort ein Haus besaß, die Erzählung veranlaßt, daß sie dort ein Haus besessen habe.

 

Dr. Georg Büchmann, der berühmte Sammler der "Geflügelten Worte", teilte die schon von Karoline Bauer erzählte Flucht vor der Kuh mit; aber er verlegt den Vorfall in die Breite Straße und läßt sie sagen: "Entschuldigen Sie, hier kommt ein Ochse." Der biblische Vergleich, als eine ihrer Töchter von Freiern umschwärmt wurde, steht auch bei ihm, und ihr Hut sei aus den Manchesterhosen ihres Mannes hergestellt gewesen. Sie habe sich darüber geäußert: "Ick habe mir aus ´n paar alte Manchesterhosen von meinen Mann ´n funkelnagelneuen Hut gemacht, vorne wie die Beneken und hinten wie die Beyrichen." Das ist schon ein Gemisch aus den Darstellungen von Tietz und Bauer. Ob diese Lesart vielleicht von Büchmann selber erfunden ist, wage ich nicht zu entscheiden. Bekannt gewesen sind dem Vielbelesenen gewiß beide Bücher.

 

Wilhelm Violet in Leipzig teilte mit, was ihm aus den Erzählungen "glaubwürdiger älterer Leute" im früheren Familienkreise und schon verstorbener Personen im Gedächtnis geblieben war. Um ihren Mann nützlich zu beschäftigen, habe sie ihn eines Tages Steine zum Haus karren lassen. Ein Fremder wünschte ihn zu sprechen und wandte sich an Madame. Der Hausherr, der seinen Namen nennen hörte, hielt in seiner Arbeit inne; aber Madame fuhr ihn an: "Wat steht Er denn da und sperrt's Maul auf? Mach Er doch, daß Er ins Haus kommt! - Nee, über die faulen Arbeitsleute!"

Die jelofen-Geschichte kennt auch er; die Gesellschafterin, die die Aufklärung erhielt, sei ein älteres Mädchen gewesen. Bei der Hochzeit ihrer Tochter mit dem Bankier Beneke hatte sie die verschiedenen Geldspenden und Trinkgelder, in Papierchen gewickelt, aufs Fensterbrett gelegt. Ihre Gesellschafterin hielt sie für Papilloten und warf sie auf die Straße; aber sie mußte sie auf Madames Geheiß trotz des hochzeitlichen Gewandes und trotz der Ballschuhe aus dem Schmutz wieder aufsuchen. -

Ihr Schwiegersohn Beneke fand, daß sie in seine feinen Kreise nicht passe, und lud sie zu Festen nicht mehr ein. Da rächte sie sich dadurch, daß sie sich in der Nähe seiner Charlottenburger Villa[11] aufstellte und jedem Kutscher, der sich nahte, Halt gebot. Dann öffnete sie die Wagentür und fragte den Insassen: "Sie fahren woll ooch zu B.? Denken Se mal an, mir hat er nich eingeladen! Is des nich eene Jemeinheit? - Fahr' zu Kutscher!" -
Als sie bei einer Vorstellung von Werners "Martin Luther oder die Weihe der Kraft" von der Bannbulle hörte, die Luther verbrennen wollte, sagte sie zu ihrem Nachbar: "Na, ick lach mir en Ast, wenn die Pulle platzt."

 

"Du weeßt doch, ich kann keene Doten nich sehen!"

Zum Schlusse trägt Dominik nach, was er im Hause seines Schwiegervaters Theodor Mügge erzählen hörte. Dort wurde immer berichtet, Madame habe ihrem Hausarzt, dem alten Heim, dadurch den Gang in ihr Haus gespart, daß sie alle Fenster aufriß und ihm mit den Worten "Doktorken, mir fehlt nichts!" die Zunge zeigte. - Wenn der König an ihrer Charlottenburger Villa (!) vorbeifuhr, grüßte sie ihn stets: "Ju'n Morjen Seine Majestät, König Friedrich Wilhelm der Dritte!" -
Dann berichtet er die Marabufedergeschichte wörtlich aus Eberty, ohne seine Quelle zu nennen, und fügt neu hinzu, daß sie große Furcht vor dem Tode gehabt habe. Als ihr Mann auf dem Krankenbette lag und zu sterben meinte, verlangte er noch einmal nach ihr. Erst auf ernstes Zureden Heims ging sie bis an die Tür und rief ins Zimmer: "Jott, Vater, wat soll denn das! Du weeßt doch, ich kann keene Doten nich sehen!"

Auf S. 239 macht der bekannte Sagenforscher Wilhelm Schwartz auf das Buch von Tietz aufmerksam, und daraus stellte Dominik zu Anfang des zweiten Teiles (S. 260) seiner Veröffentlichung zusammen, was ihm zur Vervollständigung diente.

Dann folgen Mitteilungen, die ein "namenloser" Freund des "Bär" ihm gemacht hat: Den König traf sie an einem heißen Sommertage im Garten beim Betrachten einer neuen, seltenen Pflanze. Er hielt zum Schutze gegen die Sonne die Mütze vor die Augen. Da trat Madame mit einem tiefen Knix auf ihn zu und sagte: "Bitte, Majestätken, bedecken Sie sich." -
Wahrscheinlich, um ihre Bekannten zu belustigen, wie Frau Hohenhausen sagt, leistete sie sich den folgenden Witz, der sonst für sie als Mitglied der Französischen Kolonie, die zudem nach dem Zeugnis derselben Gewährsmännin ein ausgezeichnetes Französisch sprach, ganz unverständlich wäre: Einen jungen Franzosen nannte sie immer Macon. Auf dessen Hinweis, daß er ja eine Cedille unter dem c habe, rief sie einer jungen Dame, die ihn zu einem Tanze aufforderte, zu: "Um Himmelswillen, Frölen, Herr Macon darf nicht tanzen, er hat etwas unter dem Zeh!" -
Ihre Worte an den sterbenden Gatten faßt er so: "Du weißt doch, Väterken, Padden und Dote habe ich mein Lebtag nich sehen können."

 

Louise Fromader, die "mit Madame Du Titre zusammen gelebt hat und häufig in deren Gesellschaften gewesen ist", bestätigt dann, daß sie "immer komisch erzählte" und sehr böse war, wenn sie deswegen belacht wurde, namentlich wenn das junge Mädchen taten. Aber ihre Mitteilungen sind doch überraschend dürftig.
Allerdings hatte Dominik schon vorweggenommen, daß die von der Frau von Hohenhausen für unecht gehaltenen Erzählungen von einer Dame bestätigt seien, die mit der Madame Du Titre zusammengelebt habe. Wahrscheinlich ist dies Louise Fromader.

Das Zerwürfnis mit dem Könige habe erst der Kronprinz, der nachmalige König Friedrich Wilhelm IV., in ihrer Villa in Charlottenburg (!) "neben dem Türkischen Zelt" ausgeglichen und zwar auf Veranlassung des Königs. Sie empfing "Kronprinzeken" mit aufrichtiger Freundlichkeit und glaubte ihm eine besondere Freude zu machen, wenn sie ihm alles in ihrer Villa zeigte; selbst die - ultima Thule vergaß sie nicht. "Sogar mein Waschlapppen ist reene, Prinzken, bei mir is Alles reene."

Auf seine Frage nach dem Grunde für ihren Zorn auf den König sagte sie: "S? Also das war's? Jestern muffelte er, heute muffele ick. Jestern grüßte er nich, heute ich nich. Morjen grüß' ick wieder, weil Sie bei mir waren, Kronprinzeken". Einen Jüngling, der ihr einen Handkuß geben wollte, verwies sie an ihre Töchter: "Die verstehen des." Die neu aufgekommenen Droschken nannte sie "Morschken" und das Parfüm eau de mille fleurs "ollet Milletär".
Den König tröstete sie: "Ach ja, es war doch eine schönere Zeit, als ihre Louise noch lebte" und ein andermal: "Ja, Majestätken, et is schlimm vor Ihnen; wer nimmt ooch jern eenen Witwer mit sieben Kinderkens!" Die Leinwandgeschichte ereignete sich zwischen Madame und der ihr gegenüberwohnenden "Möllendörte", die bei ihr Jahre hindurch in Dienst gewesen war und dann einen Fabrikanten von hölzernen Schrippen und "Mollen" heiratete.

 

Einen kleinen Teil dieser Geschichten hat Ludwig Makowski in einem "Lustspiel in einem Aufzuge", "Madame Dutitre", auf die Bühne gebracht. Das Stück ist in Reclams Universalbibliothek Nr. 3849 gedruckt und wurde am 19. Februar 1898 im Neuen Königlichen Opernhause zu Berlin zum ersten Male aufgeführt. Damals spielte Anna Schramm die Hauptrolle.
Der Berliner Lokal-Anzeiger nimmt in seiner Ausgabe vom 20. Februar 1898 für sich das Verdienst in Anspruch, das Lustspiel veranlaßt zu haben; denn er habe 1897 die Reihe der "Berliner Originale" mit dem Charakterbilde der Madame Du Titre eröffnet und am Schlusse den Wunsch ausgesprochen, eine berufene Feder zur Bühnendarstellung möge sich finden und Anna Schramm die Hauptrolle spielen.
(Schluß folgt)

 

1 Die Schreibung des Namens wechselt in den Kirchenbüchern der Französischen Kolonie, Friedrichstr. 129, mit Dutitre und Du Titre. In den Erinnerungen von Franz von Holbein, hg. von Bernhard Hoest in den Mitt. Des Vereins f. d. Gesch. Berlins 1922, Nr. 6, wird er Duthester geschrieben. Zu den Verwandtschaftsbeziehungen siehe später.

2 Die Zeichnung von Max Uecke in den "Berliner Originalen" von Viktor Laverrenz, erste Sammlung, Berlin 1899, S. 80 ist Phantasie. Dort S. 72-92 eine Zusammenfassung von Anekdoten über sie.
[* Die Photographie gehört zu den Kriegsverlusten des Vereins für die Geschichte Berlins.]

3 * 24. September 1803 zu Königsberg i. Pr., + 6. Juli 1879 zu Berlin. Aus diesem Buche S. 1-15 hat Fontane im "Spreeland" S. 311 ff. "Berlin in den Tagen der Schlacht bei Großbeeren" abgedruckt und ebenfalls, aber ohne Quellenangabe, Goldschmidt im 50. Heft der Schriften des Vereins f. d. Gesch. Berlins S. 472-480.

4 Getauft am 28.1.1707, + 17.5.1801.

5 Er war das dritte von zehn Kindern. Das jüngste, Benjamin (* 30.3.1748, + 5.11.1828), heiratete in erster Ehe am 28. August 1782 Ernestine Christine Enke, deren Schwester Wilhelmine die Gräfin von Lichtenau ist. Ihn meint Holbein, wenn er von Duthester redet.

6 Vgl. dazu Brecht, das Türkische Zelt, Bär 1891/92, S. 561 und 562; 572-574 und Wilhelm Kraatz, Gesch. der Luisengemeinde zu Chbg., Bln. 1916, S. 103. Madame hat also dort nie ein Haus besessen, wie oft behauptet worden ist, zuletzt noch von Béringuier im Berliner Kalender 1905.

7 Vgl. z. B. Souvenirs de Berlin par Mme la baronne Willmar, Bruxelles 1840, über die Dr. A. von Wilke geplaudert hat in den "Schriften" 50, S. 452 ff. [SVGB 1917]- S. 456. Anm. 2 meint er, Philippis Charakteristik der Madame Du Titre entspreche nicht der Wirklichkeit; leider begründet er seine Ansicht nicht. - Über jenes Haus plaudert er im ( Uhr-Abendblatt vom 1. Juli 1918. - Über das Schölersche Haus in Wilmersdorf, Wilhelmsaue 124-130, das ihm gehörte, vgl. Mitt. 1914, S. 8-10 und Dr. Nibour, Brandenburgia 16, 175.

8 Schon Brecht gab a. a. O. S. 562 den 1. Februar an.

9 Ungenau abgedruckt bei Biedermann, Goethes Gespräche. Bd. 5, Lpz. 1911, S. 79. Auch Wilhelm Bode, Goethes Lebenskunst, Bln. 6. Aufl., S. 51 und 52, bringt daraus die Geschichte, aber ungenau und mit richtigem Anfang der "Glocke". Woher er seine Fassung hat, wußte er in einer Zuschrift an mich nicht mehr. - Partheys Freund ist Dr. Friedrich Paul, unter Bellermanns Direktorat 1823 als Oberlehrer am grauen Kloster angestellt, gest. 1829.

10 In welcher Abhängigkeit voneinander diese Anekdote und das Scherzbild im Märkischen Museum stehen mit der Unterschrift: "Verzeihen Sie, hier kommt ein Ochse", habe ich nicht ermitteln können. Möglich, daß der Vorgang auf dem Bilde erst nachträglich der Madame zugeschrieben worden ist. Vgl. noch Büchmanns Wortlaut später.

11 In den "Mitteilungen" 1914, S. 9 meint der nicht genannte Verfasser, der Vorfall habe sich in der Nähe des Schölerschen Hauses in Wilmersdorf zugetragen. Seine Quelle gibt er nicht an. Vielleicht ist sie ein Aufsatz von Dr. Nibour in den Wilmersdorfer Blättern von Februar 1898, wiedergegeben in der "Brandenburgia" 16, 175. Doch gibt Dr. Nibour keine Quelle an.

 

Aus: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins 40, 1923, S. 1-6.

 

Anmerkungen der Redaktion

Ergänzende Literatur: Bernd Weber: Nach wem wurde die Georgenstraße in Berlin-Mitte benannt? In: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins 101, 2005, S. 158-165.

Redaktion einschließlich Zwischentitel: Gerhild H. M. Komander

 

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