| Nr. 31, März 2009 |

U 9 - Warten mit Daisy

Von HENNY BEHM

Daisy blinkt im Zwei-Minuten-Takt „Osloer Straße 2 Min". Es blinkt und blinkt und ... Wozu gibt es diese Anzeige? Um mich zu trösten, um mich bei Laune zu halten? Ist sie ein Ersatz für den Bildschirm, den sich permanent verändernden Computerbildschirm, den ich kurz nach dem Frühstück der Arbeit wegen verlassen muss? Überbrückt Sie für meine schnelle Bewegung gewohnten Augen die Dreiviertelstunde Zeit, die ich für den Weg von meiner Wohnung zu meinem Schreibtisch am Arbeitsplatz benötige – an den Tagen, an denen ich mein Mobiltelefon nicht dabei habe, weil ich es bei Lotte im Auto liegen ließ?

Die zwei Minuten, die Daisy über den Bahnsteig blinkt, sind gefühlt schon fünf, real drei, es blinkt nur noch „Osloer Straße". Keine Zeitangabe mehr. Ich erwarte sekündlich die Augen des Triebwagens im Untergrundschacht, aber nichts passiert. Die Frau neben mir schiebt den Mantel am Arm zurück und den Pullover, schaut auf die Armbanduhr, sieht zu Daisy hinauf. Dort blinkt es weiter ungerührt „Osloer Straße" ohne Zeitangabe, aber der Tunnel bleibt leer. Keine Frage, diese U-Bahn hat Verspätung.

Ein Drei-Minuten-Takt ist für die Hauptverkehrszeit vorgesehen, für die Zeit am Tage, in der die meisten Menschen die öffentlichen und individuellen Verkehrsmittel benutzen, um zwei Mal täglich für möglichst viel Leben auf Straßen und Fußwegen, Schienen und Schotter, auf Brücken und in Tunneln zu sorgen.

Wieder schaut die Frau neben mir auf die Uhr an ihrem schmalen Handgelenk. Ein so schmales Handgelenk habe ich unter den dicken Schichten Winterkleidung nicht vermutet. Muss ich's sagen? Muss ich wiederholen, dass Daisy weiterhin sozusagen ins Leere blinkt? Das heißt, leer ist – und bleibt – vor allem der Tunnel. Der Bahnsteig füllt sich mit jeder Sekunde mehr. Wir sind bestimmt schon 235 von den
1 000 Millionen Fahrgästen, die die BVG jährlich quer durch Berlin transportiert.

Die BVG ließ Daisy installieren, weil Studien belegen, dass wir Fahrgäste das Warten auf die nächste U-Bahn, den Bus oder die Straßenbahn geduldiger ertragen, wenn wir Daisy blinken sehen, sprich: die Anzeige uns die tatsächliche Ankunftszeit des Gefährts, auf das wir so hoffen, anzeigt. Das funktioniert, weil uns Daisy die Wartezeit allein mit der Aussicht auf eine baldige Ankunft verkürzt, die „gefühlte Wartezeit" ist kürzer als die tatsächliche. Was aber geschieht, wenn diese angezeigte tatsächliche Ankunftszeit nicht die tatsächliche ist? Das Blinken ins Leere nagt am Vertrauen der Fahrgäste, stürzt sie in Zweifel, gelegentlich sogar in Verzweiflung.

Auf dem U-Bahnhof Rathaus Steglitz hallt keine Ansage aus den Lautsprechern über uns hinweg, niemand macht sich die Mühe uns Wartende zu unterrichten, warum die U 9 Verspätung hat. Niemand kommt und fragt, ob ich einen heißen Kaffee möchte oder ein belegtes Brötchen brauche. „Nur zehn Jahre für Michelles Mörder?" knallt mir die B-Zeitung ins Gesicht. Ein breiter Mann hat sich nach vorn geschoben, ganz vertieft in seine Bilderzeitung vom Morgen, derart, dass ich keine freie Sicht mehr auf Daisy habe, auch nicht wenn ich mich auf die Zehenspitzen stelle.

Was nun? Ich kann die dynamische Fahrgastinformation nicht mehr erkennen. Die Frau neben mir, die gerade auf ihre Armbanduhr schaute, ist auch verschwunden. Ich spüre einen starken Luftzug. Die U-Bahn kommt.

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- © henny behm 3/09 -

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