Torstraße / Die Elsässerstraße*
Tingel Tangel in Berlin von Eberhard Büchner
*Die Elsässerstraße heißt seit dem 25. Juli 1994 Torstraße wie auch in den Jahren von etwa 1801 bis 1873 ein Teil der Straße benannt war – damals schrieb man Tor noch mit „Th".
Die Elsässerstraße ist die eigentliche Varietéstraße Berlins. Freilich, heute ist von den Varietés der Elsässerstraße kaum mehr etwas Besonderes zu berichten. Gibt es dort überhaupt noch Varietés? Zwei, drei gleich beim Oranienburger Tor. Aber das ist auch alles. Nein, das Varieté der Elsässerstraße, wie es der alte Berliner noch kennt, ist so gut wie ausgestorben. Das Heute ist fahl und farblos gegen das Einst.
Lieblich war das Einst ja nie. Und doch hatte es gewisse Reize. Das Quartier latin Berlins hat durch Aufhebung der vielen Varietés ein beträchtliches an Originalität verloren. Die Elsässerstraße ist stiller, alltäglicher geworden, als sie es einst war. Das bunte Leben und Treiben, für das in erster Linie Studentenschaft und Dirnenwelt sorgte, hat sich nach anderen Gegenden hin verzogen, von dem lebhaften Droschkenverkehr, den die Straße früher wies, ist nichts mehr zu sehen. Einsam wandelt, wenn abends die Lichter brennen, eine Handvoll Freudenmädchen ihren Weg, auf ein paar junge Leute stößt man, die zur Tanzstunde ausziehen, einen Arbeiter, der sein Heim aufsucht, einen Schutzmann, der der Ablösung sehnlich entgegenharrt.
Ja, das Einst!
Ein Schutzmann erzählte mir:
„Ach, wie das früher hier zuging! Da wurden so bis zu neun oder zehn Tonnen Bier jeden Tag in die Lokale reingeschafft, die Pferde, die konnten manchmal unter der Last zusammenbrechen – ein enormer Konsum! Heute sind Sie froh, wenn Sie es bis auf eine Tonne bringen. Es kommt einfach niemand mehr – wie ausgestorben!"
Und als ich ihn fragte, wie das alles eigentlich gekommen sei, zuckte er nur mit den Achseln. „Ja, wie das so kommt.
Die Lokale sanken immer mehr. Sie wurden immer gemeiner und dümmer und da sind eben ein paar aufgehoben worden, andere gingen ein, weil niemand mehr hinkam, und was jetzt noch da ist, das ist eigentlich ein recht trauriger Rest. Sehen kann man da nichts Besonderes mehr. Lohnt sich gar nicht erst, daß Sie hingehen."
Was ich an alten Erinnerungen an das Einst aufgespeichert habe, ist nicht gerade holdester Natur. Die Lokale, die ich kannte, rangierten durchweg unter die Rubrik der Kellnerinnenvarietés, alias Räuberhöhlen, gehörten wohl zu den schlimmsten dieses Genres. Als Spezialität ließe sich erwähnen, daß hier die Kuppelei wahre Orgien feierte. Mit Schaudern entsinne ich mich, wie unter der Hand ein junges Mädchen verschachert wurde, das offenbar gerade erst in Berlin eingetroffen war. Bei aller Heimlichkeit ging die Sache doch so offenkundig vor sich, daß ich sie Zug für Zug genau verfolgen konnte.
Wer heute auf Varieté-Abenteuer nach der Elsässerstraße auszieht, wird ziemlich arm an Ausbeute zurückkehren. Höchstens daß er von durstigen Kellnerinnen umgirrt wurde, daß er ein paar leidlich freche und pikante Couplets zu hören bekam, ein paar reichlich dekolletierte Fräuleins auf der Bühne antanzen sah. Aber das ist auch alles, und das kann man natürlich auch andernwärts erleben. Auch der große Damenringkampf, den jüngst eines dieser Lokale ankündigte, ist an und für sich nichts Neues. Neu wäre vielleicht nur der Trick, das Plakat hinauszuhängen und dann dem fragenden Besucher zu eröffnen, daß grad an diesem Tag der Ringkampf nicht stattfinden könne. Mag ja wohl sein, daß es ein anderer besser trifft als der ob seines Mißgeschickes gebeugte Verfasser.
Von den Lokalen, die zwar nicht als Tingeltangel bezeichnet werden können, aber doch manchen Zug vom Tingeltangel übernommen haben, wäre der Kuhstall in der Elsässerstraße besonders zu erwähnen. Hier konzertiert allabendlich eine phantastisch aufgeputzte, sich zum Teil aus recht jugendlichen Musikantinnen rekrutierende Damenkapelle.
„Die Kühe, das sind wir," scherzt die laszive Kellnerin; „und hier, gucken Sie mal da hin" – und sie zieht den Besucher in eine verschwiegene Nische, in der ein großmächtiges Bild eines mit gewaltigen Hörnern ausgestatteten Ochsen hängt. Das ist noch so ein Stück der alten Frechheit, der alten Keckheit und Obszönität, ein Stück alter Elsässerstraße. In den Cafés wäre wohl noch ein zweites zu entdecken.
Und nun hätte ich fast etwas vergessen. Das Skala-Theater. Nichts kann deutlicher demonstrieren, daß die Elsässerstraße den Weg sittlicher Besserung eingeschlagen hat, wie die Eröffnung der „Skala". Wohlanständigstes Publikum, bestes Familienpublikum, ja sogar, man denke, Kellnerbedienung. Und das in der Elsässerstraße! Zweifellos ist es eines der hübschesten und am trefflichsten geleiteten Spezialitätentheater, die Berlin aufzuweisen hat. Abgesehen von den großen internationalen Etablissements: dem Wintergarten, dem Apollotheater, dem Passagetheater.
Aus:
Eberhard Büchner: Varieté und Tingeltangel in Berlin, Berlin und Leipzig, dritte Auflage 1905. Band 22 der Großstadt-Dokumente, hg. von Hans Ostwald, Verlag von Hermann Seemann Nachfolger G.m.b.H.
*Die Elsässerstraße heißt seit dem 25. Juli 1994 Torstraße wie auch in den Jahren von etwa 1801 bis 1873 ein Teil der Straße benannt war – damals schrieb man Tor noch mit „Th". Die erste Bezeichnung war Schönhauser Communication, denn die Straße lief an der Stadtmauer entlang und verband so die nördlichen Tore Berlins miteinander. Teile der Straße hießen auch Wollankstraße und Lothringerstraße. Elsässer und Lothringer Straße führten von 1951 bis 1994 den Namen Wilhelm-Pieck-Straße, benannt nach dem Politiker, der 1949 zum Präsidenten der Deutschen Demokratischen Republik gewählt wurde. – gk -
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