Hier schreibt Berlin. Eine Anthologie von heute
Von Fred Hildenbrandt
Gestern mittag gegen zwölf Uhr, die Sonne prallte aus allen Fensterscheiben am Dönhoffplatz, sank eine alte Frau in einem braunen Kleide, indessen einige eilende Menschen neugierig einhielten, zu Boden und legte mit einer letzten vorsichtigen Anstrengung, sich nicht zu verletzen, den kleinen Kopf mit spärlich weißen Haaren sanft auf den Asphalt.
Aus den Wegen rings kamen junge Männer und junge Mädchen gelaufen und beugten sich über die Liegende; eine dicke Dame mit weißer Bluse und erhitztem Gesicht zog hastig ihr Jackett an, ein junger Bursche mit einer Hasenscharte kniete nieder, ein langer städtischer Arbeiter legte eine Schaufel fort – diese drei hoben die Ohnmächtige ungeschickt auf, und ein Schwarm von Menschen, der wie eine Traube surrender Bienen größer wurde, zog mit zu der nächsten Bank, von der lungernde Kinder erschreckt fortliefen.
Nahe an der Bank stießen die Elektrischen mit vielen Gesichtern und grellen Plakaten vorbei, knisterten die Räder der Autos vorüber, schwankte ein Omnibus hoch über die brühende Straße. Nur in der kleinen heißen Höhle zwischen dem Gesicht der Liegenden und dem Gebüsch von Köpfen, das sich darüber bog, war eine große Stille.
Der alten Frau hing vom Kopfe ein kurzes, mit schwarzer Schnur verknotetes Zöpfchen, in dem eine große Haarnadel lose steckte, die gelbe Stirn war sehr niedrig und sehr gewölbt, aber von glatter, trockener Haut, die Nase klein und aufgestülpt, der Mund eingesunken zum schmalen und bläulichen Strich, nur das Kinn stand kräftig, kantig und so scharf nach oben, daß es schien, als ob hier die großen Hautfalten, die vom Halse und aus den Schultern kamen, zum Zerreißen gespannt wurden. Ihr Kleid war abgescheuert und hatte den scharfen Geruch der Armut, ihre Hände lagen breit, gelblich und hart, man hatte sie gekreuzt in ihren Schoß gelegt, wie man sie Toten zu betten pflegt.
Die dicke Dame kam mit einem Glas Wasser wieder, als ein Schutzmann die Gruppe teilte, sich zu Häupten der Liegenden setzte, seine Handschuhe abstreifte und mit einer unglaublich zarten und langsamen Arbeit der Hände den Kopf der Greisin auf seine Schenkel legte. Sie erwachte von der Berührung, schlug aber die Augen nicht auf, nur das Kinn löste sich vom Munde; sie sprach leise, rasch und unverständlich in das Stück blauen Himmels hinauf, das zwischen den Hüten der Neugierigen über ihr siedete. Das Wasser, das die Dame ihr einzuträufeln versuchte, wollten die Lippen nicht aufnehmen, aber sie bebten allzu heftig. So wären die Tropfen alle vorbeigeronnen, hätte die Dame sie nicht mit ihrem Tüchlein abgetupft.
Die Menschen, die eng aneinander gelehnt auf die Bank sich beugten, fuhren jäh auf, als das Geplärr eines Kindes, das gefallen war, dicht hinter ihnen die Minute zerriß, sahen sich unsicher lächelnd an, einige gingen, als ob ihnen etwas einfiele, eilig weiter, die andern wandten sich wieder der Bank zu, auf der die Ohnmächtige noch murmelnd im Schoße des Schutzmanns lag. Die dicke Dame begann in den Kleidern der alten Frau zu suchen, nach Börse, Zetteln, Arbeitskarten, wohin sie gehöre; aber es fielen nur Krumen von Brot und ein Stück Zeitung zur Erde.
Es schien, als ob die Liegende in diesem Augenblick fühlte, worauf es ankäme; sie hob die Lider, ihre rotgeränderten Augen blieben in dem Silberstern des Tschakos, und es sah aus, da sie sich weiter nicht rührte und die ruhelosen Lippen augenblicklich schloß, als ob sie alles gut und richtig finde, wie es jetzt sei.
Die Umstehenden wurden sichtlich ungeduldig über die Untätigkeit des Schutzmanns, der seither weder ein Wort gesprochen noch sich bewegt hatte und immer noch in den großen Händen den Kopf der Frau hielt und auf sie herunterblickte; es war nicht aufgeschrieben in seinem jungen Gesicht, was er dachte.
Einige Minuten später, man wußte nicht, wer ihn gerufen hatte, hielt mit kurzer Wendung ein Rettungswagen an der Rampe des Platzes, zwei Männer hoben die alte Frau auf eine Bahre und schoben sie in den weißen Raum. Zwischen den Weitergehenden brach der Platz langsam wieder auseinander mit Grün, Blumen, Sonne, hohen Häusern, Bäumen Kindern und der großen Bläue des Himmels; der Schutzmann rückte den Tschako, zog die Handschuhe an und ging raschen Schrittes auf seinen Posten, um das bunte Gewitter der Straßen, der Wagen, der Menschen, des Lebens donnerte.
Aus:
Hier schreibt Berlin. Eine Anthologie von heute, herausgegeben von Herbert Günther, Berlin: Internationale Bibliothek G.m.b.H. 1929, Umschlagzeichnung von Ernst Ullmann
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