Karl Marx Allee 150„Schön im Sinne des Volksempfindens"

Von der Stalinallee zur Karl-Marx-Allee

Als „Nationales Aufbauprogramm" entstanden zwischen 1952 und 1960
3 000 Wohnungen mit Ladengeschäften und Freizeiteinrichtungen in der Stalinallee*.

Auf einer Strecke von zweieinhalb Kilometern errichtete ein Architektenkollektiv monumentale Wohnblöcke und Torbauten, ein Kino und eine Sporthalle.

Zuvor war der Straßenzug, der sich bis 1949 in Frankfurter Allee und Große Frankfurter Straße teilte, von Trümmern beräumt, auf 75 Meter verbreitert und ergänzend erschlossen worden. Die Frankfurter Allee konnte als eine der ersten Straßen wieder befahren werden. Die Sowjetische Militäradministration nutzte diesen Weg, um vom Zentrum Berlins zu ihrer Kommandantur in Berlin-Karlshorst zu gelangen.

 

Dem Neuen Bauen eine Chance?

Der Bezirk Friedrichshain, in dem die Stalinallee entstand, war im Zweiten Weltkrieg besonders schwer durch Bomben getroffen worden, so dass schon das erste Planungskollektiv für den Wiederaufbau Berlins um Hans Scharoun hier die Chance sah, die „Neue Stadt" zu verwirklichen. Erste Pläne wurden 1946 im Berliner Schloss gezeigt, um die gesamte Bevölkerung in die Diskussion einzubeziehen.

Scharoun und seine Kolleginnen und Kollegen, die dem in den zwanziger Jahren entwickelten Neuen Bauen anhingen, profitierten von ihren Erfahrungen aus der Vorkriegszeit und gründeten ihre Entwürfe auf den großstadtkritischen und reformerischen Theorien Bruno Tauts und anderer Architekten. Die Pläne waren letzten Endes in keiner der Berliner Besatzungszonen zu verwirklichen.

Diese Zeit relativer Freiheit in der Stadtplanung von Seiten der Architekten dokumentieren die Bauten der Wohnzelle Friedrichshain - besser gesagt: was von ihr in der Ausführung übrig blieb -, die die Kollektive Ludmilla Herzenstein (Karl-Marx-Allee) und Helmut Riedel (Hildegard-Jadamowitz-Straße und Graudenzer Straße) 1949-50 in der Tradition des Neuen Bauens errichteten.

Die Wohnzelle – später „Wohnstadt" – orientiert sich an den Plänen Hans Scharouns, die zu mehr als fünfzig Prozent zerstörten Stadtteile im Stil einer durchgrünten Stadtlandschaft als Ausdruck eines demokratischen Sozialismus aufzubauen, konnte jedoch aus politischen Gründen nur zu einem kleinen Teil ausgeführt werden.

Neben den „Arbeiterpalästen" der Stalinallee fristen die Laubenganghäuser an der Karl-Marx-Allee längst im wörtlichen Sinn ein Schattendasein hinter dicht gepflanzten, hochgewachsenen Pappeln und verweisen in dieser Zurücksetzung um so deutlicher darauf, dass sich Ende des Jahres 1949 die politischen Verhältnisse in Deutschland – mit besonderer Wirkung auf Berlin – veränderten und sich in der eben gegründeten DDR die Führung der SED als alleinbeherrschende Macht in allen Bereichen etablierte.

 

Walter Ulbricht ernennt sich zum „Architekten"

Hatte der Ostberliner Magistrat mit seinem Generalaufbauplan – der die Westberliner Sektoren einbezog – den Plänen Scharouns eine Grundlage geboten, nahm die SED-Führung den 70. Geburtstag Josef Stalins zum Anlaß, erstens am 21. Dezember 1949 die Große Frankfurter Straße und die Frankfurter Allee in Stalinallee umzubenennen und zweitens den Ausspruch des Diktators, Moskau sei das städtebauliche Muster für alle Hauptstädte der Welt, wörtlich.

Damit war den Plänen der durchgrünten Stadtlandschaft der Boden entzogen. Eine Architektenpersönlichkeit mit weitreichenden städtebaulichen Kompetenzen, wie Bruno Taut sie von 1924-31 in Berlin verkörpert hatte, fand man nicht. Statt dessen gab die SED unter der Führung des Generalsekretärs des Zentralkomitees Walter Ulbricht die „Grundsätze des Städtebaues" vom 27. Juli 1950 heraus** und polemisierte in der sogenannten Formalismusdebatte gegen jegliche Architektur in der Tradition des Neuen Bauens der zwanziger Jahre.

„Schön im Sinne des Volksempfindens" und nach Moskauer Vorbild sollte Berlin aufgebaut werden. Schließlich legte Ulbricht selbst die Gestalt für die Stalinallee fest, die in einer monumentalen, geschlossenen Bebauung bestehen sollte. Die Stalinisierung und Entdemokratisierung der DDR deprimierte und vertrieb Politiker und Architekten aus den zuständigen Gremien, nicht zuletzt Hans Scharoun.

 

Schinkel soll es sein

45 Architekten nahmen 1951 an dem Wettbewerb für die Gesamtplanung der Stalinallee teil, nachdem Hermann Henselmann die Ausschreibung für die Weberwiese im Süden der Straße gewonnen hatte und das erste Hochhaus im „neuen Stil" errichten konnte. Die meisten Teilnehmer schieden aus, da sich ihre Entwürfe nicht oder nicht ausreichend an die vorgegebene „klassische" Berliner Bautradition hielten.

Fünf Preisträger schließlich erarbeiteten gemeinsam den Ausführungsplan: Egon Hartmann, der den ersten Preis erhalten hatte, Hans Hopp, Kurt W. Leucht, Richard Paulick und Karl Souradny. Sie waren auch als ausführende Architekten beziehungsweise Mitglieder der Kollektive bestimmt worden. Zu ihnen wurde Hermann Henselmann bestellt, der die städtebaulichen Dominanten Strausberger Platz und Frankfurter Tor zugewiesen bekam.

Für die sieben- bis zehnstöckigen Wohnblöcke verwandten die Architektenkollektive vorschriftsmäßig bestes Baumaterial – vom Ziegelstein bis zum Porphyr – und die Meißner Fliesenverkleidung für die Außenwände. Während die Gestaltung der Baukörper weitgehend vorgegeben war, blieb den Architekten größerer Spielraum in Gliederung und Verwendung der „klassischen" Dekoration, die entsprechend vielfältig – schlicht bis üppig – ausfiel.

 

Mit der Lotterie zur neuen Wohnung

Weder Material, noch Geld und Arbeitskraft waren ausreichend vorhanden. Eine Lotterie, in die die Bevölkerung Geld und Arbeitskraft einzubringen aufgefordert war, um eventuell zu den 1 000 Gewinnern einer Wohnung in der Stalinallee zu gehören, schuf Abhilfe. Arbeitskräfte und Material wurden zusätzlich aus anderen Städten abgezogen. Dieser Umstand erklärt die hohe Akzeptanz der Stalinallee bei den meisten alteingesessenen BewohnerInnen Ost-Berlins. Die Neugier und Bewunderung vieler anderer Deutscher und auch der ausländischen Berlin-BesucherInnen erklärt er nicht.

Tatsächlich kamen und kommen die Bauten der Stalinallee dem Schönheitssinn eines großen Teils der Bevölkerung entgegen. Die für die Moderne begeisterten Deutschen waren in der Nachkriegszeit eine Minderheit. Die Mehrheit bezog sich in ihrer Einschätzung des „Schönen" auf „kanonische Werke aus der Zeit des Nationalsozialismus***. Es gelang Stalin und in der Folge Walter Ulbricht, „vertraute Bilder in einen neuen Deutungszusammenhang zu montieren".

Bis in die Gegenwart schätzt ein großer Teil der Bevölkerung – unabhängig von Alter, Bildung und Wohlstand – die Kunst der Klassik und des Klassizismus. Nur mit der Anlehnung an diese vergangenen Stile konnte der Sowjet-Sozialismus in der Bevölkerung der DDR verankert werden, erobert sich diese Architektur auch jetzt - großenteils unreflektiert – ihr Publikum.

Die politische Komponente und die Hintergründe der Entstehung der Stalinallee sind den meisten heute lebenden Menschen unbekannt. Daß die Bauten der Stalinallee, ihre Fassaden, die Namensgebung der Straße Indikatoren für die Stalinisierung der DDR waren, wird in weiten Teilen ebenso ausgeblendet wie der unmittelbare Zusammenhang mit dem Aufstand vom 17. Juni 1953.

 

Anmerkungen

* Am 13. November 1961 erfolgte die Umbenennung der Straße. Walter Ulbricht ließ über Nacht das Stalin-Denkmal entfernen, die Straßenschilder austauschen und die U- und S-Bahnhöfe umbenennen. Aus der Stalinallee wurden die Frankfurter Allee und die Karl-Marx-Allee. Eine Verlautbarung zu dieser Aktion gab es nicht.

** Abgedruckt in: Nicolaus/Obeth, S. 64 f.

*** Simone Hain: Kolonialarchitektur? Die Stalinallee im Kontext internationaler Ästhetikdebatten seit 1930, in: Karl-Marx-Allee. Magistrale in Berlin, S. 85

 

Leseempfehlung:

Karl-Marx-Allee. Magistrale in Berlin. Die Wandlung der sozialistischen Prachtstraße zur Hauptstraße des Berliner Ostens, hg. von Helmut Engel und Wolfgang Ribbe, Berlin 1996

Herbert Nicolaus und Alexander Obeth: Die Stalinallee. Geschichte einer deutschen Straße, Berlin 1997

 

Gerhild H. M. Komander

Dieser Text erschien zuerst im "Berliner Lindenblatt", 2008.

 

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