Das Paradies liegt in Neukölln

Der Comenius-Garten an der Richardstraße

Das Tor in der Richardstraße 35 ist ins Schloss gefallen. Das Rütteln hilft nichts. Nur wer weiß, wie es sich öffnen lässt, darf eintreten. Äpfel, Birnen, Haselnüsse, Himbeeren, Johannisbeeren, Pfirsiche und Stachelbeeren säumen den Gartenweg. Ein kleines Paradies öffnet sich – mitten in Berlin.

 

Das Böhmische Dorf

Der Comenius-Garten liegt im Böhmischen Dorf. 1737 nahm König Friedrich Wilhelm I. 350 Glaubensflüchtlinge aus Böhmen in Brandenburg-Preußen auf. Einige von ihnen erhielten Berliner Bürgerrecht, andere Siedlerstellen in Brandenburg. Der König erwarb das Schulzengut Rixdorf und ließ neun Doppelgehöfte bauen, die von Flüchtlingen bewohnt und bewirtschaftet wurden.

Fast alle Gebäude des 18. Jahrhunderts vernichtete der große Brand im Jahre 1849, die Nachfahren der Emigranten leben noch heute in Neukölln, in den Häusern, die die Menschen anstelle der Brandruinen errichteten.

Das Böhmische Dorf erstreckt sich entlang der Richardstraße zwischen Ganghoferstraße und Schöneweider Straße. In den Seitenstraßen und am Richardplatz stehen noch viele der Bauten des 19. Jahrhunderts. In der Kirchgasse erinnern Relief und Statue an Johann Amos Comenius, den letzten Bischof der Böhmischen Brüder, und Friedrich Wilhelm I. Der Bildhauer Josef Vajce schuf das erste, Alfred Reichel das zweite der Werke.

 

Johann Amos Comenius

Der Theologe und Pädagoge Johann Amos Comenius (1592-1670), der in seiner tschechischen Heimatsprache Jan Amos Komenský heißt, erfuhr in seinem langen Leben direkt die harten Folgen der religiösen Auseinandersetzungen, die 1618 in den Dreißigjährigen Krieg mündeten. Die Menschen in Böhmen hatten sich der Reformation zugewandt. Als der Krieg endlich 1648 befriedet wurde, fiel Böhmen an das katholische Haus Habsburg. Der Kaiser zwang die Bevölkerung, sich zu seinem Glauben zu bekennen. Auswanderungswellen bis in das 18. Jahrhundert waren die Folge.

Auch Comenius verließ die Heimat, wanderte durch Europa und schrieb: „Gott ladet alle ein, zwingt niemand, duldet alle, verdammt niemand, er hebt sein Urteil für die Zukunft auf. Unser Hass, mit dem wir um der Religion willen gegeneinander eifern, unsere heftigen Religionskriege, zeigen sie nicht die offene Verderbnis? Was ist eine Religion in Waffen?“ Die Frage hat bis heute niemand beantwortet.

 

Der Comenius-Garten

Comenius lehrte ein Leben im Einklang mit der Natur als die Grundlage allen menschlichen Lernens. Dies Lernen forderte er für alle Menschen, reiche und arme, Jungen und Mädchen, Männer und Frauen aller Religionen. Wie es gelingen könne, ein neues Paradies zu pflanzen, fragte er sich.
Hier gab es Antwort: „Durch Selbstsehen, Selbstsprechen und Selbsthandeln.“

Schon 1987 entstand im Böhmischen Dorf die Idee, zum 400. Jahrestag des Gelehrten einen Philiosophie- und Schulgarten anzulegen, der seine Lehre des Lernens umsetzt und die historischen und modernen Stätten in Rixdorf miteinander verbindet.

Den Entwurf zum Garten auf der Freifläche an der Richardstraße gestalteten die Garten- und Landschaftsarchitekten Cornelia Müller, Elmar Knippschild und Jan Wehberg. Im Comenius-Garten befinden sich drei der Stationen des Lebensweges, der am Walnussbaum, dem Baum des Lebens, am Karl-Marx-Platz steht. Über den Mutterschulbereich geht es in den Garten hinein. Hier befinden sich der Grundschul-, Lateinschul- und Akademiebereich.

Veilchenbeet, Rosenhain, Irrgarten, Seelenparadies und Wiesenbeet, Comenius-Denkmal und Ausstellungsfläche sowie das Auge Gottes versinnbildlichen die drei Stationen im Garten. Außerhalb des Gartens liegen die Schule des Berufs, die Greisenschule und die Schule des Todes. Sie werden durch die Kolonistenhöfe in der Richardstraße, die Seniorentagesstätte und den Böhmischen Gottesacker verwirklicht.

 

Im Comenius-Garten gibt es Führungen, die die gärtnerischen Sinnbilder erklären. Alle Gäste des Gartens können sich auch allein auf Entdeckungsreise machen, die Ruhe genießen und innehalten. Es gibt soviel zu sehen. Pflanzen, die vielen Stadtgeborenen unbekannt sind, Obststräucher, die vielleicht der Kindheitserinnerung angehören. Duft von Veilchen und Rosen locken – und das sollen sie auch: Verlocken, Natur zu entdecken, kennenzulernen. Wissen und Bildung für alle Menschen waren ja die erklärten Ziele des Gelehrten Comenius. Er glaubte, die Menschen könnten das Paradies nur als Garten neu erschaffen. Auf 7 000 Quadratmetern ist es Gärtnerin und Gärtnern in Neukölln gelungen.

Die UNO ehrt Comenius als geistigen Wegbereiter der demokratischen Zivilgesellschaft. In den Kreisen der Bevölkerung sind der tschechische Weltbürger und sein Werk fast vergessen.
Zur Erinnerung an Johann Amos Comenius stiftete die tschechoslowakische Regierung 1992 ein Denkmal für die Gartenanlage in Rixdorf. Der Bildhauer Josef Vajce schuf es, Staatschef Alexander Dubcek enthüllte das Werk 1992, als der Garten eröffnet wurde.

 

Gerhild H. M. Komander

Der Text erschien zuerst im "Berliner Lindenblatt" 2007.

 

***
8.1.07 | Auf dem Weberplatz in Babelsberg steht ebenfalls ein Denkmal für Comenius. Der mährische Künstler Igor Kitzberger schuf es 1995. König Friedrich II. hatte Familien aus Böhmen in der Nähe von Potsdam angesiedelt. Ihr Dorf hieß Nowawes, wurde später - zusammengelegt mit dem älteren Neuendorf - umbenannt in Babelsberg. Um den Weberplatz stehen noch heute einhundert Weberhäuser aus dem 18. Jahrhundert. Die achteckige Kirche errichtete 1752/53 der Potsdamer Baumeister Jan Boumann.

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25.11.17 | Das Dorf nimmt an der Veranstaltung Offene Gärten teil. Dann können auch Wohnhöfe besichtigt werden.

 

Leseempfehlung:

Der Comenius-Garten. Eine Leseprobe aus dem Buch der Natur, hg. von Henning Viereck, Berlin: Edition Hentrich 1992. 137 S. Mit zahlreichen Schwarzweiß- und Farbabbildungen. - Das Buch ist nicht mehr im Buchhandel erhältlich, aber in der Amerika-Gedenk-Bibliothek auszuleihen.

 

Adressen und Hinweise:

Comenius-Garten
Richardstraße 35, 12043 Berlin. U 7 U-Bahnhof Karl-Marx-Straße, Telefon: 686 61 06
Führungen durch das Böhmische Dorf und im Comenius-Garten nach Vereinbarung

Förderkreis Böhmisches Dorf in Berlin-Neukölln e.V.
Gegründet 1984 zum Erhalt des Böhmischen Dorfes und Träger des Comenius-Gartens
Vorsitzender des Förderkreises: Beate Motel, Kirchgasse 13-17, 12043 Berlin, Telefon: 68 80 91 21, Fax: 687 60 24.

Geeske Agneta Hurling und Hella Spiess haben sich im Wintersemester 2004/2005 in einer Hausarbeit am Institut für Erziehungswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin mit dem Comenius-Garten beschäftigt.

Deutsche Comenius-Gesellschaft, Berlin
Geschäftsstelle: Beate Motel, Richardstraße 80, 12043 Berlin, Telefon und Fax: 687 60 24

 

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